Brasilien: Carneval, Lebensfreude pur, Caipirinha, Copacabana … – man kann sich etwas vorstellen darunter.
Argentinien: Maradona, Evita Peron, Plazo de Mayo, Gautschos … – auch hier kann man sich etwas vorstellen.
Chile: lang, Pinochet. Das war’s dann schon.
So erging es nicht nur mir, und fürs Rantasten an dieses faszinierende Land fehlte uns irgendwie die Zeit. Eine Überwältigung nach der andern raffte unsere Aufmerksamkeit fürs Land weg. Beagle-Kanal, Kap Horn, Fjorde, Stürme im «stillen» Ozean. Chile muss man von Süden her sehr langsam erfahren, es setzen lassen und dann versuchen, ein Bild anhand der überwältigenden Bilder zu zeichnen.
Südchile ist nicht überflutetet vom Tourismus, Nachrichten erreichen die Welt nicht 1:1, ich glaube, Chile, ennet der Anden, das hat einen schweren Stand sich nach der Diktatur sein ramponiertes Image so aufzubessern, dass es auf unserer geistigen Landkarte einfach locker zu finden wäre.
Ich liste hier einige Dinge, die mich bei jedem Land interessieren auf, um mir selbst einen Rahmen zu schaffen:
– längstes Land der Welt, N-S-Ausdehnung 4300 km – etwa so lang wie von den Spitzbergen nach Sizilien!
– liegt auf 3 Kontinenten (Ozeanien, Südamerika, Antarktis)
– hat 5 Klimazonen:
– Grosser Norden Chiles (17° – 28° S), genannt Wüstenchile (ohne Niederschläge, Wasser kommt auf hohen Lagen
nur von den Andengletschern und muss gefasst werden)
– Kleiner Norden (28° – 38° S), genannt Flussoasenchile (subtropisch)
– Kleiner Süden (38° – 42° S), genannt Waldrodungschile, Winterniederschläge, valdivianischer Regenwald
– Grosser Süden (42° – 55° S), genannt Urwaldchile, ganzjährig hohen Niederschlag auf, temperierte Regenwälder.
In nur knapp 2 Wochen alle diese Klimazonen zu durchfahren, setzt dem älter werdenden Körper und Immunsystem heftig zu!
Die Bevölkerung ist sehr interessant. Wo es in Brasilien ganz offensichtlich ist, dass die Menschen von Afrika stark beeinflusst sind, in Argentinien im Süden (im Norden waren wir ja nicht) kaum indigenen Einfluss zeigte (wegen der Ausrottung dieser Völker), fällt in Chile als Erstes auf, wie viele Menschen mit indigenen Wurzeln da leben. Das mag davon kommen, dass Chile seine Ethnien nicht gross benennt und aufteilt, sie einfach leben lässt.
Die soziale Struktur ist auch hier wie überall in Südamerika – und neustens greift diese Seuche auch auf Europa über – zumindest nicht optimal. Hier gibt es nicht wie in Brasilien Favelas, in Argentinien Villas Miserias, hier heissen sie Campamentos (Campingstädte). Die Anzahl klettert seit Jahren in drastischer Art und Weise an. Reiseleiter sprechen sie nur auf Nachfrage an. Und auch nur sehr zurückhaltend.
Die Wirtschaft Chiles ist durch Kupfer- und Lithium-Abbau dominiert. Die Kupferminen hat denn noch nicht mal Pinochet wieder privatisiert, weil der Staat ordentlich von ihnen leben kann. Dass die, die das Kupfer abbauen, nicht so viel davon haben, erklärt sich von selbst! Ausser sie sind weit hinaufgestiegen, dann verdienen sie sehr gut, sterben vielleicht viel früher, aber wer denkt schon mit 20 darüber nach, was in 30 Jahren ist, verlieren können die meisten nichts. Chile hat das höchste Bruttosozialprodukt Südamerikas, der Graben zwischen Arm und Reich ist sehr gross!
Und dann die Politik: Wie alle Länder Südamerikas kämpfte sich auch Chile von den Spaniern, aber auch von sich selbst los. Präsident nach Präsident kam und ging. 1970 kam mit Salvador Allende ein grosser Einschnitt in eine Wirtschaft, die völlig darniederlag, da nur die Grossgrundbesitzer sich ihrer Güter und Vorteile erfreuten, das Volk darbte. So wurde die Wirtschaft vom demokratisch gewählten Sozialisten Allende verstaatlicht, die Kinder bekamen eine kostenlose Grundausbildung, das Einkommen stieg, die Arbeitslosigkeit sank. Aber die Reformen kosteten. Gut für die USA. Denn soviel Kommunismus war zuviel des Guten für sie, Nixon wollte die „Kommunisten“ in Chile „ausquetschen“, wie er es nannte. Sie taten alles, um die Regierung in Misskredit zu bringen, am Schluss wurde Chile als kreditunwürdig erklärt. Ausländische Investoren zogen ab und die USA säbelten am Präsidentenstuhl. Im August 73 ernannte Allende dann Augusto Pinochet zum Oberbefehlshaber der Armee und da war’s um ihn geschehen: Augusto Pinochet bereitete ihm am 11.9.73 bei einem Putsch das politische Ende (gem. Kissinger wäre die USA zwar da nicht dabei gewesen, aber sie hätten das Territorium gut vorbereitet). Persönlich bereitete sich Allende nach neusten Erkenntnissen selbst ein Ende.
Pinochet gab bis zu den Kupferminen alles den privaten Eigentümern zurück und führte ein äusserst rigides Regime gegen solche, die seine Ansichten nicht gutgeheissen haben. In seiner Regierungszeit 73 – 90 zeigte er sich sehr wendehalsig, bis er dann 1990 abgewählt wurde (nachdem er die Wahlen mit Drohungen manipulieren wollte) . Als er 2006 starb, waren in Chile noch 300 Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen hängig, zusätzlich kamen Fälle von Steuerhinterziehung, Unterschlagung und angenommenerweise auch Drogenhandel. Der Mann wurde nämlich 1998 in London verhaftet und kehrte 2000 nach Chile zurück, wo er schnell «dement» und nicht mehr für alle Fälle verhandlungsfähig war.
So eine Geschichte ist nicht einfach in 30 Jahren vergessen. Mir kam es immer vor, dass sowohl in Argentinien wie auch in Chile der Schreck noch gross ist. Aber die Südamerikaner sind stolze Leute, ich traue denen durchaus zu, dass sie irgendwie hoch kommen. Aber dafür müssen sie zuerst auf der geistigen Landkarte der so wichtigen Touristen erscheinen.
Ebend das Buch «Rabenfrauen» von Anja Jonuleit gelesen. Darin geht es um zwei Frauen und deren Lebenslauf. Eine der Beiden fand den Weg in eine christliche Jugendgruppe und endetet in Gefangenschaft der «Kolonia Dignidad» in Chile. Während Pinochets Amtszeit wurden auf dem Gelände der Kolonia Digninad Menschen gefoltert und getötet, auch solche der Kommune. Auch das ein Teil der Geschichte Chiles.
Du hast sehr informativ geschrieben und ja, Chile ist auch für mich und vermutlich ganz viele andere reisefreudige Menschen, ein unbekanntes Land.
Da mag ich fast nicht mehr mit mit all› den vor allem politischen und wirtschaftlichen Informationen, liebe Ursula.
Die Länder des Südens werden da «wellenartig» ụ̈berflutet, unsere Freunde in Argentinien sind regelmässsig auf der Strasse, um friedlich zu protestieren; dies könnte sich allerdings bald ändern, wenn der Präsident Milei seine verrückten Ideen vorantreibt. In den Adern der Latinos fliesst revolutionäres Blut; dies seit die Spanier die Länder ụ̈berfielen. Trotzdem, die momentane sehr «brenzelige» Situation in Europa und Nahost lässt uns sicherheitsmässig mit diesen Staaten in Südwest der Welt «liebäugeln».
Wie ich euch verstehen kann. Es ist nicht die Sicherheitslage in Europa, aber nach dieser Reise kann ich deine Liebe zu Südamerika absolut nachvollziehen.
Danke für exzellente Zusammenfassung!